04.09.2015

Das Bild vom toten Kind am Strand und wir

Ich habe in den letzten Jahren hunderte Verbote von Fotos bei Gerichten beantragt, oft auch bei Bildern von Kindern. Häufig folgten die Gerichte diesen Anträgen, weil für privat zurückgezogene, verletzte, hilflose oder im schlimmsten Fall tote Menschen ein solcher Freiraum gilt, nicht zum Gegenstand öffentlicher Erörterung gemacht zu werden.

Trotzdem meine ich, dass das Bild des toten Jungen veröffentlicht werden darf. Das ist aber keine juristische Frage, denn es liegt ein Einverständnis vor (der Vater des Jungen, der weiß Gott andere Probleme hat, sagt ja ausdrücklich, dass die Welt das Foto sehen soll).

Was bedeuten 500 ertrunkene oder 71 erstickte Flüchtlinge? Was 800.000 Asylbewerber? Diese Zahlen sind so abstrakt, dass uns in ständiger medialer Reizüberflutung die Antwort gar nicht erreicht.

Aber dieses Kind ist konkret – und das todtraurige Bild geht uns so unendlich nah, weil es nicht von unserer Realität getrennt ist. Rotes T-Shirt, blaue Shorts, die sanften Wellen – so kennen wir unsere Kinder, lachend über genau solche türkischen Strände laufen. Viele Nutzer haben ihr Entsetzen über die Grausamkeit des Bildes gerade mit Blick auf ihr Glück mit den eigenen Kindern begründet.

Das Bild ist bereits jetzt – um den euphemistischen Begriff zu benutzen – ikonographisch. Das bedeutet auch: Der Abgebildete ist in gewisser Weise instrumentalisiert. Das wiegt schwer. Es wird hier etwas abgemildert, da das Gesicht des Kindes nicht zu sehen ist.

Auf der anderen Seite aber. Das Bild kann helfen; helfen, mehr Akzeptanz für die Situation von Flüchtlingen zu erzeugen und bei dem ein oder andere “Ich habe nichts gegen Asylbewerber, aber…”-Sager zu einem Umdenken zu kommen. Und auch ganz konkret: Alan Posener schreibt im heutigen WELT-Text als Argument GEGEN eine Veröffentlichung “Man möchte mit einem Stofftier zum nächsten Flüchtlingsheim fahren und es dort einem kleinen Syrer geben. Als Ersatzhandlung. Damit man sich besser fühlt.”

Frage: Was wäre daran eigentlich so schlimm, wenn es das einzige ist, was man tun kann?

Dominik Höch

Autor: 
Dominik Höch